Keiler Bike Marathon 2022 |
Hier in Lohr am Main
startet seit 1997 jedes Jahr der „Keiler-Bike Marathon“, ein
Mountainbike-Rennen welches ich besonders in Herz geschlossen habe.
Sämtliche Wege und Trails der Strecke sind mir aus meiner Kindheit
bekannt. Mit meinem Vater selig unternahm ich dort seit dem Beginn
meines Bewusstseins Wanderungen und Ausflüge. Am hochgehaltenen Händchen
erlebte ich seinerzeit meine ersten Outdoor-Abenteuer in den
Eichenwäldern des Hochspessarts. Die Rennstrecke passiert dabei die
schönsten Ecken, die die Gegend hier seit Jahrhunderten zu bieten hat.
Die Beschaffenheit des Kurses passt in sportlicher Hinsicht geradezu
perfekt zu meiner neuen Leidenschaft, dem Cross-Country bzw.
Marathon-Mountainbiking. Die Teilnahme an diesem Event stellt daher
schon länger den Höhepunkt meines Sportjahres dar. Auf keine
Sportveranstaltung freue ich mich mehr. Zugegeben, es ist auch der einzige Wettkampf dieser Art, an dem ich überhaupt teilnehme. Ich betrachte mich in der Fahrradwelt außerdem noch als Neuling, da ich mit 43 Lenzen, das war vor vier Jahren, erst mit dem Radfahren anfing. Treten, Technik, Taktik und Traktion waren alles Dinge, die ich als alter Mann lernen musste. Dies geht nicht ohne Höhen und Tiefen vonstatten und bei meinem ersten Rennen, dem „Keiler-Bike-Marathon 2021“ unterlief mir praktisch jeder Fehler, den man so machen kann. Vielleicht sogar noch der eine oder andere mehr. Grundsätzlich war ich gar nicht schlecht drauf und errechnete mir aufgrund meiner strammen Waden auch einige Chancen, aber meine unkontrollierte Strava-Sucht und der Run auf immer höhere „Schnitte“, ließ mich in den Wochen vor dem Start die notwendigen Körner verbrennen. Dazu ignorierte ich alle gut gemeinten Hinweise auf das regelmäßige Essen und Trinken während des Rennens. Als erfahrener Läufer fiel es mir nie schwer auch mal 2 Stunden „ohne“ auszukommen. Als Radfahrer ging ich aber lang und schmutzig ein. Nun gut, es gelang mir zwar mich an den ersten Anstiegen etwas zurückzuhalten aber kurz vor der ersten langen, flachen Abfahrt bemerkte ich, wie sich einige Radler vor mir fragend umdrehten. Alle hatten Zahnräder auf die Waden tätowiert und ihre tiefe Bräune ließ Rückschlüsse auf diverse Trainingsurlaube auf einer trockenen, warmen Mittelmeerinsel zu. Zunächst dachte ich, die kennen den Weg nicht und scannen das Feld nach einem Ortskundigen. Also fuhr ich beherzt und wohl etwas dankbar belächelt an die Spitze. Angesichts meines 38er Kettenblattes und meiner niedrigen Sitzposition hatte ich doch ganz gute Karten und trat mit Einsatz in die Pedale. Mit 45 km/h brausten wir abwärts und die ganzen großen Radler hatten sich hinter meinem großen Hintern ganz klein gemacht. Keiner machte auch nur die Anstalten hier zu überholen. Ich verstand das Manöver erst am Fuße des Berges, an dem ich erschöpft mein Tempo reduzieren musste. Die ganze Meute flog förmlich an mir vorbei und Danke oder „Daumen hoch“ gab es einfach gar nicht. „Slytherin“ und „Nice guys finish last“ rief ich der Bande hinterher und am folgenden Anstieg fehlte mir die Erholung, die Luft und damit dann auch die Zeit. Ich war der Depp und die waren fort. Kurz darauf verkrampften sich meine Oberschenkel. Dieses Desaster sollte sich nicht wiederholen, das stand fest. Mit einer Gesamtzeit von über 3 Stunden hatte ich 2021 zwar erfolgreich die Ziellinie überrollt, aber im Grunde war es eine bittere Rechnung für die mangelnde Wettkampferfahrung. Hier wollte ich im Jahr 2022 alles besser machen. Technisch hatte ich mich ebenfalls weiterentwickelt und mein neu konstruiertes Fahrrad bekam eine Kinderkrankheit nach der anderen ausgetrieben. Hier wollte ich dessen Potential gegen die Radfahrelite anrennen lassen und herausfinden zu welcher Leistung wir beide im Stande sind. Die zahlreichen schnellen Ausfahrten mit der Schotterradbande in Darmstadt vermittelten mir ein Gespür für das Einteilen der Kondition, die Bedeutung des Windschattens und die Jungs gaben mir auch einige Tipps in Sachen Ernährung bei Wettkämpfen. Auf diesem Parkett mangelte es mir nach wie vor an Erfahrung und die ganze alberne Strava-KOM-Sammlerei sowie der Pimmel-Vergleich mit den bekloppten Jahreskilometern bereiten einen einfach noch nicht auf ein waschechtes Rennen vor. Hier zählen andere Dinge und hier hatte ich einfach nichts auf der Hand. Folglich sah ich dort auch meine Schwäche. Wie würde es mir gelingen, die Kraft richtig einzusetzen und über die Strecke entsprechend einzuteilen? Mit einem dicken Kloß im Hals und einem doch recht flauen „Warum tue ich mir das an“ Gefühl im Magen stieg ich schon kurz nach 7 Uhr die steile Straße zum Vereinsheim hinauf um meine Startnummer abzuholen. Nervös schob ich vorbereitend den QR-Code meiner Bestätigungsmail auf das Display und hoffte innig, alles möge glatt gehen. Solche digitalen Kapriolen nerven mich, daher wollte ich das ganz früh erledigen. Vor mir lief ein Mädel mit einem dicken Zopf ihren Hund Gassi führen und ich musste sogleich an die Mountainbike-Rennen auf Youtube denken. Die ziehe ich mir beim Strampeln auf der Rolle manchmal rein, um mich zu motivieren und um Fahrradatmosphäre im Wohnzimmer zu erzeugen. Aus einem mir unerfindlichen Grund tragen viele der Damen einen langen, dicken Zopf, den sie immer geschickt hinten aus dem Helm heraushängen lassen. Aber ich verwarf diesen Gedankengang sogleich wieder, zu angespannt war ich und meine Bedenken mit dem Check-In vereinnahmten mich vollständig. Natürlich funktionierte alles problemlos und nach einigen Beep-Beeps und Ritsch-Ratschs hielt ich die begehrte Tüte mit dem Trikot und der Startnummer in den Händen. Ganz verzückt war ich über meine coole „7“, die für ein breites Grinsen und beste Laune sorgte. „Dann bekomme ich noch fünfundzwanzig Euro“ ließ mich etwas zusammenfahren. Aber das galt nicht mir, es galt dem Mädel mit dem Zopf und dem Hund, die offensichtlich ebenfalls eine Startnummer abholte. Eine geschwind gezückte EC-Karte verursachte auf der anderen Seite des Tisches nur ablehnendes Kopfschütteln. „Nee, nee nur Bares ist Wahres“. „Dann muss ich nochmal runter zur Sparkasse“ antwortete sie enttäuscht. „Also wenn es nur darum geht, bezahle ich das und Du gibst mir das nach dem Rennen oder per Paypal oder so“ bot ich spontan meine Hilfe an. Sie willigte dankend ein, schrieb sich meine E-Mail-Adresse auf meinte „Wir sehen uns dann im Ziel“. Die coole “7“ sichtbar stolz in den Händen haltend, schritt ich über den Schotterplatz zurück zum Auto. Inzwischen waren zahlreiche Teilnehmer eingetroffen und im Licht der wärmenden Morgensonne herrschte ein reges Treiben. Fahrrad vom Dach heben, Reifen aufpumpen, Trikot überstreifen, Powerbars in die Taschen stopfen, dicke Sprüche über den Parkplatz brüllen und natürlich das nervige Geleier der Warmfahrrollen. Jedes Mal, wenn so ein Teil laut aufheulte, kommentierte ich dies mit einem leisen und vielleicht auch ein wenig verächtlichen “Ja gib alles Kumpel“. Der Start rückte näher, meine Trinkflasche enthielt inzwischen 5 verdünnte Power-Gels und alles war dreifach geprüft. Trotz aller Vollständigkeit fand ich einfach keinen Ansatz meinen Kloß im Hals loszuwerden. „Würde ich mich diesmal richtig einteilen können, wie gehe ich das an?“. „Mach ja nicht zu schnell am Anfang, hinterher kannst Du noch Gas geben und fokussiere Dich nur auf Dein Ziel“ hämmerte ich mir ein. In der Tat wollte ich unbedingt unter 3 Stunden kommen und priorisierte daher eine Zeit von 2:59:59. Die Strategie und das konkrete Vorgehen lagen keineswegs auf der Hand, sondern verbargen sich hinter einer grauen, giftigen Horrorwolke, die zwischen meinem Hals und meinem Magen hin und her zu wabern schien. Der nervöse, knallbunte Hightech-Schwarm, der sich kurz darauf auf der Hauptstraße in Wombach einfand, kündigte den unmittelbar bevorstehenden Start an. Ständig klickte man an seinen Pedalen herum, lehnte sich Gelassenheit vortäuschend auf den Lenker oder drückte dem Teamkollegen ein oberflächliches und belangloses Gespräch. Tatsächlich verrieten die jeweiligen Trikots eine nicht unerhebliche Organisation. „Mensch die haben alle Erfahrung und Du bist der einsame Rookie“ leitete ich für mich daraus ab. Der Moderator bemühte sich die Stimmung anzuheizen, gab den Countdown bis zum Start regelmäßig durch und drehte die treibende Musik immer einen Tick zu laut auf. Dummerweise befand ich mich in unmittelbarer Nähe eines Lautsprechers. „Es ist mir eine besondere Freude unseren heutigen Ehrengast, die deutsche Hochschulmeisterin als Teilnehmerin zu begrüßen“ plärrte es viel zu laut aus der Box. Es folgten einige Gesprächsfetzen, aber ich konnte so viel wie „Sie möchte 2 Stunden 45 Minuten fahren“ verstehen. Ich konnte das Interview aufgrund meiner hinteren Position nicht sehen. Die Stimme der Frau kam mir aber bekannt vor und ich ordnete sie meiner Begegnung bei der Startnummernausgabe zu. „Mensch das ist die von heute morgen“. Beim Blick in den Wald aus rasierten Männerbeinen und Reifen, kam mir dann auch eine erste Idee für das Bevorstehende. „Jetzt habe ich es, einfach das Mädel mit dem Zopf die erste Hälfte nicht überholen und Du bist gut orientiert“. Wenn die so erfolgreich beim MTB Fahren ist, dann hat die einen Plan und ein Konzept und ist in der Lage, sich von Beginn an richtig einzuteilen. Das war der Strohhalm, nach dem ich zu greifen gedachte. Nun hatte auch ich einen Plan, eine Strategie, förmlich einen Rockzipfel, an dem ich mich festhalten würde. „3-2-1-Los“ riss mich aus meinen Gedanken und nun benötigte ich meine gesamte Konzentration, um in der chaotischen Startphase mit niemandem zusammenzustoßen. Das Summen der vielen profilierten Reifen und das Klacken der Schaltungen bei der Fahrtaufnahme mischte sich mit den Anfeuerungen der Zuschauer. Es roch nach Waschmittel, Plastikkleidung und Reifengummi. Die Sonne stand schon einigermaßen am Himmel und wir durchrollten im blinkenden Wechsel die Schatten der Häuser, die die immer steiler werdende Straße säumten. Da war es wieder das hundertfache Klacken der Schaltungen. Ich blickte bergan und dünn zog sich das Feld in den ersten Serpentinen bereits auseinander. Das Knirschen des geschotterten Weges und der sogleich einsetzende Staub läutete den gefühlt eigentlichen Start des Rennes ein. Ich kurbelte locker, schnaufte absichtlich tief und war bemüht mich nicht durch frühes Überholen verleiten zu lassen. Die Spitze war lange weg, aber so auf halbem Wege zum Horizont kämpften ein paar Strampler schon eine ganze Weile lang. „Mach locker, fahr hinterher, spare Deine Kräfte“ vor allem überhole das Mädel nicht, ermahnte ich mich. Scharf links bog sich die Strecke zur ersten Abfahrt. „Und jetzt lässt Du auch wieder Luft“ sprach ich laut aus. Schließlich hatte ich meinen neuen Prototypen am Start, an dem ich 1,5 Jahre gebaut hatte. Diese heilige Kuh wollte ich unter keinen Umständen beim Debüt zu Klump fahren, schon gar nicht wegen 10 geschissener Sekunden. Etwas überrascht bemerkte ich, dass die vorausfahrende Gruppe am Fuße des Gefälles keine 50 Meter gut gemacht hatte und setzte diese kleine positive Welle sogleich in Vortrieb um. „Guck Dir die Kerle an, die kochen alle mit Wasser“ beurteilte ich die Situation und hängte mich sogleich wieder an. Die Strecke folgte nun rechts einem schmalen Pfad, der stetig stieg und einige bissige Steilstellen enthielt. Mitunter brauchte ich meinen ersten Gang. „Vielleicht ist so ein 40er Kettenblatt doch etwas mächtig für so ein Profil“, zweifelte ich. Aber nun rannte der Trail wieder und ich folgte weiter dieser Gruppe, die inzwischen etwas Boden gewann. „Nicht verleiten lassen, mach Dein Tempo und fahr Dein Rennen“, rief ich mir zu. Etwas ungläubig blinzelnd realisierte ich dann auch den Sturz des Führenden, der an einer vollkommen harmlosen Stelle plötzlich auf dem Boden saß. Zum Glück hielt er aber sofort den Daumen hoch. „Da schau, selbst die guten Fahrer kann es ganz schnell zerlegen, konzentriere Dich“ erteilte ich mir Befehle. Eine flache Schotterabfahrt ließ mich, ohne viele Körner zu investieren, zwei weitere Plätze gutmachen. Mein Bike mit meinem kleinen dicken Kadaver drauf war hier merklich schneller als die großen „Twentyniner“ mit den langen dünnen Kerlen. Sogleich klemmte ich mich an das nächste Hinterrad und beobachtete die goldene Kette, die in den engen Kurven immer zwei Ritzel höher sprang, um dann wieder auf das Ausgangsritzel zurückzukehren. Ich imitierte diese Manöver und kopierte ebenfalls die Trittfrequenz, bis ich auf den langen Zopf aufmerksam wurde. „Mensch das ist schon die deutsche Meisterin“, erschreckte ich mich. „Verdammt, du bist zu flott, die fährt doch auf 2:45“. Glücklicherweise blieben diese Worte unausgesprochen und auch den Schauer, der mir über den Rücken lief, behielt ich für mich. „Du ungezügelter Trottel, mach gefälligst halblang“. „Die kennt sich viel besser aus als Du, fährt wahrscheinlich seit Ihrer Kindheit Rennen und teilt sich richtig ein“. Aber nun biss ich mir auf die Zunge und verkniff mir vehement jedes Überholmanöver. Nach einer Weile kam ich mir jedoch dämlich vor, zog nach vorne und sagte wenigstens mal „Hallo, Du fährst wohl nicht erst seit gestern“, war das einzige was mir in dieser Sauerstoffmangelsituation einfiel. „Nee, seit ich zehn bin. Ach Du bist doch der mit der Startgebühr“ antwortete sie. „Danke nochmal“ „Du wolltest doch 2:45 fahren, was dagegen, wenn ich mich an Dir orientiere?“ hechelte ich. „Das hat der Moderator gesagt, aber mach ruhig“ kam es zurück. „Aber sag doch mal warum ihr Mountainbikerinnen immer so einen großen Zopf habt?“ nutzte ich die Gelegenheit. „Ach das ist wegen der Aerodynamik“ erhielt ich als Erklärung. Im selben Moment schämte ich mir ob dieser Plumpen Unterhaltung schon in Grund und Boden. Was habe ich denn schon mit der zu labern, auch wenn wir uns hier als Rennteilnehmer und in diesem Augenblick in derselben Situation befanden. Ich wollte doch nur etwas Strategie lernen und jetzt gehe ich Ihr auf den Keks und sie muss wegen der kleinen belanglosen Gefälligkeit von vorhin auch noch Dankbarkeit vortäuschen. Diese mir peinliche Situation galt es nun schnellstens zu beenden. Ich hielt inne, ließ mich wieder zurückfallen und beschloss fortan die Fresse zu halten. Ein gewisse Wut über mich und meinen Auftritt bestimmte die nächsten Minuten. Sauerstoffmangel ist einfach ein Kultur- und Anstandskiller. Dann bot sich überraschend eine kleine Gelegenheit, mich für die geschätzte Geschwindigkeitsvorgabe dankbar zu erweisen und meine nervige Anwesenheit etwas zu kompensieren. Die Strecke war eigentlich durch weiße Pfeile auf dem Boden hervorragend gekennzeichnet, aber nun fehlte an einer Gabelung plötzlich der Richtungspfeil. Ein inzwischen aufgeschlossener Verfolger bog somit prompt falsch ab. „Hier lang“, rief ich und forderte meinen Hintermann auf, uns zu folgen. Er schaute zunächst überrascht, folgte uns aber dann. „Geht es wirklich hier lang?“ fragte meine Pacemakerin den Kopf nach hinten drehend. „Ja, Du bist richtig abgebogen, ich bin fast sicher“ versicherte ich. „Wieso fast?“ kam es zurück, „Also letztes Jahr ging es hier hoch und die Strecke hat sich meines Wissens nicht geändert“. „Na dann drücken wir mal die Daumen“ entgegnete sie lachend und wir folgten Ihr nun zu zweit dichtauf. Eine gefühlte Ewigkeit später erschienen weitere der gesuchten weißen Kalk-Pfeile, die die Richtigkeit untermauerten und uns alle doch erleichtert aufheulen ließen. Ich bemerkte nun, dass ich an den kleinen, knackigen Anstiegen einfach etwas mehr Luft hatte als jeder in der Gruppe und die Versuchung davonzuziehen wurde immer konkreter. „Mensch Du kannst doch hier die deutsche Meisterin nicht überholen, das gehört sich nicht“. Das ist wohl wenig „Gentlemen like“ und „Ladies first“ und überhaupt sind hier die Rollen „Champion“ und „Anfänger“ eindeutig vergeben. Ohne Deinen Taktgeber gehst Du dann wieder ein wie im letzten Jahr. Ich beschloss noch für mindestens 15 weitere Minuten meine Position nicht nach vorne zu verändern. Schließlich verlangsamte sich unsere Gruppe wieder an einem kleinen Anstieg derart, dass ich gar nicht anders konnte als die Führung zu übernehmen. Kacke, jetzt war es noch wieder passiert und ich fürchtete mich davor, diesen Schritt hinterher zu bereuen. Um mich abzulenken, fixierte ich ein blaues Trikot in der Ferne, auf das ich nun zuhielt. Anfeuerndes „Hop Hop“ empfing mich am Forsthaus Aurora. Ich griff sogleich nach der Flasche ISO-Getränk, die mir einer der Helfer auffordernd hinhielt. Heftig zog ich an dem Nuckelding aus Plastik und drückte so viel Flüssigkeit in mich hinein, wie nur möglich. Durst hatte ich zwar keinen, aber ich beherzte die Ratschläge der Schotterradbande. Auch meine „Powergel-Flasche“ war schon merklich leichter. Kurz vor dem Erreichen der Klosterkuppel gelang es mir dann zu dem Vorausfahrenden aufzuschließen. Jetzt würde gleich die „Verarschungsstelle“ kommen und mich im Voraus entschuldigend sprach ich den Mann an. „Sorry, aber ich kann mich bergab nicht wieder opfern und Windschatten machen“. entfuhr es mir. Ich blickte den Kerl an und stellte überrascht fest, dass er sehr jung war. „Das ist schon ok“ erhielt ich als Antwort. Wir fuhren teils nebeneinander, teils hintereinander und taten uns beide auf dieser langen Schotterabfahrt keinen Zwang an. Daher holte unser Verfolger auch bis zum Einstieg in die Abfahrt nach Einsiedel auf. Auf dieser Abfahrt ist Überholen nicht so einfach und in der Mitte wird es auch etwas rau. Daher drehte ich mich um und forderte den Mann hinter mir auf, doch bei der nächsten Gelegenheit vorbeizufahren. Bergab wollte ich schlicht nicht alles geben und plante da gefühlt mindestens 10% Luft zu lassen. „Mach immer etwas langsamer als es gehen würde und fahr sicher“ ermahnte ich mich und griff prüfend nach den Bremshebeln. Konzentriert umfasste ich den Lenker und ließ locker aus dem Sattel gehend die Federgabel ihren Dienst verrichten. Mein junger Mitstreiter hatte ordentlich Boden gut gemacht aber mein Hintermann kam auch nach mehreren Gelegenheiten nicht vorbei. Ich beschloss beide Umstände zu ignorieren und erwartete mit Spannung die steile Schlussausfahrt bei Lichtenau. Der Fahrer hinter mir überholte mich schließlich im folgenden kleinen Anstieg und bewegte sich langsam auf das blaue Trikot am Horizont zu. Aber die beiden kamen nicht wirklich weg. Leider gelang es mir nicht in den Windschatten zu kommen, aber so wirklich fort waren die nie. Kurz vor dem Anstieg bei Einsiedel war ich an die beiden wieder herangefahren. Wie gesagt, auf glattem Boden rollte mein Bike schlicht etwas flotter. Nun galt es sich zu entscheiden. Mein Überholer kurbelte etwas stärker und entfernte sich von mir und dem Jungen im blauen Trikot. Ich hätte auch noch ein paar Körner auf Reserve und überlegte schon zu folgen. Aber es war immer noch früh im Rennen und ich wollte um keinen Preis wieder einbrechen. Also folgte ich meinem Vordermann. Der hatte die Nummer 77 und vielleicht erleichterte auch dies die Entscheidung mit meiner Startnummer 7 hinter ihm zu bleiben. Schließlich passten wir so ganz gut zueinander. Etwa nach der Hälfte der Steigung fand ich es wieder albern so schweigend und schnaufend durch den Wald zu fahren und begann ein Gespräch. „Kennst Du die Strecke?“, fragte ich. „Nein, nicht genau“, antwortete mein Kollege. „Wir sind jetzt knapp über die Hälfe und spare Dir was für den Schluss, der wird nochmal steiler“, wollte ich als Hinweis geben. Ich war schließlich nicht „Slytherin“, ich war „Gryfindor“ und sorgte für gerechte Verhältnisse. „Nach Aurora kommt dann nur ein ganz kurzer flacher Buckel bis zur nächsten, langen Abfahrt“ schloss ich ab. Er bedankte sich und hatte aber sichtlich Mühe die steinige Schlussrampe zu nehmen. Ich überlegte erst noch etwas zu warten, aber dann beschloss ich doch vorwärtszufahren. Der Abstand zwischen uns vergrößerte sich und plötzlich war ich wieder schnell und alleine. „Gefährliche Abfahrt“ warnten ein großes, rotes Schild. Flüchtig erinnerte ich mich auch an diesen Trail und hielt mich wieder etwas zurück. „Fahr vorsichtig Du Arsch, bis hierher hast Du es geschafft. Versaue es jetzt nicht, konzentriere Dich und lass Luft“, sprach ich laut aus. „Laaangsam“, kommentierte ich jede Wende und jedes Steilstück. Kaum knirschte wieder der Schotter eines breiten Waldweges unter den Reifen, da hatte die Nummer 77 links überholt und sich 30 Meter vor mir positioniert. Er war offensichtlich in der Abfahrt etwas schneller, was mich nicht sonderlich überraschte. Das Rennen lief jetzt genau 2 Stunden und exakt hier hatte ich im letzten Jahr die schlimmen Krämpfe. Die Beine fühlten sich aber gut an und entschlossen wollte ich das „blaue Trikot“ wieder einholen. Wie tausend Nadeln begann es plötzlich in meinen Oberschenkeln zu stechen und erschrocken verminderte ich das Tempo. „Scheiße, jetzt geht das schon wieder los“ fluchte ich. Der Abstand zum Vordermann wuchs und wuchs und ich kackte mehr und mehr ab. Der Klos in meinem Hals begann mir die Luft abzuschnüren. Nichts hatte ich gelernt, nichts hatte sich geändert und natürlich blieb ich wieder der Depp. Nach etwa 2 Minuten sanfter Bewegung spürte ich aber, dass sich meine Beine erholten und auch auf kurze Schübe nur mit dem üblichen Laktat-Schmerz und nicht mehr mit Krämpfen reagierten. Der Schweiß lief wieder und in einem leichten Gang achtete ich auf viel Drehzahl und lockeres, gleichmäßige Treten über den ganzen Umfang. Ganz langsam näherte ich mich wieder dem jungen Kerl und holte ihn bald darauf, noch vor dem Ende des Anstiegs, wieder ein. „Wie heißt Du denn?“ fragte ich und stellte mich ebenfalls vor. Ich war so dankbar wieder im Rennen zu sein und hatte gerade gar keinen Bock auf Konkurrenz. Wir unterhielten uns nett und mir war der Junge so sympathisch, dass ich einfach weiter hinter ihm herfuhr. Nicht im Traum dachte ich daran bei der nächsten Gelegenheit zu überholen. Ganz im Gegenteil, denn als wir zusammen wieder über die Klosterkuppel radelten, beschloss ich schlicht, es ganz genau so wie bei Letzten Mal anzugehen. Dies verhinderte ein Zuschauer, der plötzlich, sein Fahrrad schiebend, die Strecke querte und mich zur Vollbremsung in den Graben zwang. „Fuck, was sollte denn das“ dachte ich mir und bemühte mich, wieder auf den Weg zu kommen. Mein neuer Bekannter hatte sogleich 200m gut gemacht und befand sich kurz darauf außer Sichtweite. Etwas verärgert legte ich mich ins Zeug und stellte überrascht fest, dass dies meine Beine ohne Probleme mitmachten. Am höchsten Punkt des Landkreises Main-Spessart war ich wieder an ihm dran und kommentierte genervt mein unglückliches Zurückfallen. „Mensch da versperrt mir doch tatsächlich einer den Weg“. „Jetzt hätte ich beinahe Pech gehabt“. Mein Vordermann schwieg, pedalierte hart und brauste voraus. Ich nutzte nun seinen Windschatten. Wir hatten die „Eulenkreuzung“ gerade in Schussfahrt passiert, da flog mit anständig Überfahrt die deutsche Meisterin an uns vorbei. „Ho, ho, jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen“, dachte ich mir. Jetzt bekam ich eine Nachhilfestunde in Taktik und richtiger Einteilung. Nun zeigt sich der Unterschied zwischen Champion und „Vorstadt-Rookie“. Dazu hatte ich für meinen peinlichen Auftritt am zweiten Anstieg nun die gerechte Watschen erhalten. Tatsächlich fand ich diesen Gedankengang gar nicht so unangenehm, denn so musste ich mich der „Ladies first“-Problematik nicht mehr stellen. Die Entscheidung, dem Mädel aus Anstand oder Respekt vor ihren Auszeichnungen und Titeln den Vortritt zu lassen, lag nun nicht mehr bei mir. Aber gucken, wie die fährt, wollte ich dann schon, denn von diesem taktischen „Homerun“ galt es so viel wie möglich zu lernen. Ich gedachte so lange wie möglich zu folgen, gleichwohl ich mir in dieser Abfahrtssituation auf schmalen Trails nicht allzu große Hoffnungen machte. Sofort bemerkte ich, wie sie bei der Wahl der Linie, was mich anstrengte und forderte, ganz locker blieb und gefühlt ohne großen Aufwand das Bike auf den jeweiligen Kurs brachte. Was bei mir erzwungen, eckig und unreif wirkte, vollbrachte sie rund und mit einer gewissen Eleganz und Perfektion. Mir war es so ein Leichtes, die Position zu halten, denn ich musste sie nur imitieren. Gleich dem letzten Wagen auf einer Achterbahn folgte ich der Meisterin so für die nächsten 10 Minuten. Die Euphorie und die Begeisterung hier dranbleiben zu können, ließen mich alles andere vergessen und in belanglosen Streifen vorbeifliegen. Schließlich schossen wir aus dem Wald heraus und die Sonne blendete. Sofort erkannte ich die Zielgerade. Einen kleine Rampe würde es noch geben, aber das Ende des Rennes stand unmittelbar bevor. Irgendwie fehlt mir hier nun die Erinnerung, aber plötzlich war auch der junge Kerl mit dem blauen Trikot wieder vor uns. Da beschloss ich alles auf eine Karte zu setzen. So eine gute Mountainbike-Fahrerin braucht sicher keinen Frauenbonus und erwarten tut die den schon gar nicht. Die kennt Rennsituationen weitaus besser und Gnade hatte ich von der auch nicht zu erwarten. Aber was ist wenn die dann frustriert ist, weil der erstbeste, hässliche alte Knacker (das bin ich), der ganz offensichtlich nichts drauf hat außer Zahnbelag, in der Zielgerade an Ihr vorbei geht. Und das alles nur, weil er ohne irgend etwas dafür zu können ein Geschlecht hat, welches in den letzten 10 Millionen Jahren andere Aufgaben wahrnehmen musste. Wenn die bei der Weltmeisterschaft im schwarz-rot-goldenen Trikot auch nur eine schlechte Erinnerung daran mitnimmt, dann wäre das schon so eine Art „Wehrkraftszersetzung“ oder gar „Verrat am Vaterlande“. Ich spürte wieder den Kloß im Halse. Dann traf mich der Blitz. „Du Arschloch, hier fahren 300 Mountainbiker ein Rennen, was glaubst Du eigentlich wie scheißegal Du jedem einzelnen hier bist“. Die geben alles und das gilt für Alle und das solltest Du einfach auch machen. Außerdem könnte plötzlich einer von hinten heran schießen und an Dir vorbei gehen, nur weil Du hier kuschst und das erforderliche Mind-Set nicht mitbringst. Selbst die 77 gewann nun ordentlich Boden und drohte zu verschwinden. Meinen jungen Kollegen schätzte ich jedoch an der kommenden, kleinen, knackigen Steigung etwas schwächer ein als mich und daher beschloss ich genau dort anzugreifen. Es war wichtig den Spurt noch weit bis in das kommende Gefälle ziehen, um genügend Abstand für die letzten Meter herauszufahren. Unter gar keinen Umständen wollte in den letzten zwei Minuten Windschattenfahrer an mir kleben haben, die mir dann zwangsläufig die Platzierung 20 Meter vor dem Ziel noch streitig machen. „Banzaaaaaaaiii“ Es klappte hervorragend und mit Tränen in den Augen gab ich alles und überholte das Mädel und den jungen Kerl an der steilsten Stelle. Nun folgten die entscheidenden Sekunden. Würde ich genügend Abstand gewinnen? Der Tacho meldete 45km/h und erst nach 200 m wagte ich den ersten Schulterblick. Tatsächlich war niemand zu sehen und ungläubig schaute ich mich nochmals genau um. Hochkonzentriert und bei jeder Gelegenheit bis weit ins Laktat tretend, brauste ich nun die letzten Meter den Flowtrail entlang. Kurz darauf war schon das Geplärre des Lautsprechers im Ziel hören und ich nahm mir fest vor jetzt nicht noch auf die Schnauze zu fallen. „Reiß dich zusammen, vooorsichtig um die Kurve“. Einen kleinen Augenblick lang erschien mir der Weg zu dem Tor nicht eindeutig aber ich verließ mich auf mein Gefühl. Mit einiger Fahrt passierte ich die Ziellinie und zog überglücklich an der Bremse. „Hurra, ich hatte es geschafft“. Die Grimasse, die ich nun aufhatte, musste komisch ausgesehen haben. Grinsend und schnaufend, gleich der grotesken Fratze einer Latex-Puppe aus dem politischen Kabarett, beglückte ich die Umgebung mit meiner Hackfresse. In der Kombination mit Helm und Sonnenbrille gibt es wenig, was beschissener aussieht. Aber ich wusste ich hatte meine Zielzeit erreicht, ich wusste ich hatte mein Rennen gemacht und ich wusste, dass ich heute an diesem Tag alles geben konnte. Es mag jetzt etwas unglaubwürdig erscheinen aber in diesem Moment war mir meine Platzierung vollkommen egal. Ich ignorierte demonstrativ die große Anzeigetafel, die im Zielbereich aufgestellt war und um die sich eine Traube Radfahrer gebildet hatte. Lautstark kündigte der Moderator nun das Eintreffen meiner Taktgeberin an: „Wir erwarten nun die Einfahrt der deutschen Hochschulmeisterin“. „So wie es aussieht wird sie ihre Zielzeit von 2:45 etwas unterbieten“. Kurz darauf und bei 2:44 bremste sie scharf neben mir. Aus irgendeinem Grund wandte sie sich mir zu und grüßte mich nickend. In meiner Ankunftseuphorie gab ich ihr „Thumbs up“ und brabbelte: „Danke fürs Pacen“. „Au Backe, hast du das jetzt wirklich gesagt?“, fragte ich mich und beschloss mich nun schnellstens zu verziehen. Am Ende muss ich über Lautsprecher auch noch was sagen. Da wäre nichts Gescheites aus mir herausgekommen, dessen war ich mir sicher. In der Tat erzeugte mein Fahrrad einiges Aufsehen und ich blickte in mehrere neugierige und fragende Gesichter. Selbst der Moderator musterte das Bike. Ich schloss mich schnell dem Strom aus Bikern an, der sich Richtung Parkplatz bewegte. Nach einem Abstecher zum Putzplatz saß ich in meinem Klappstuhl und kippte ein Elektrolytgetränk ab. So wirklich viele Teilnehmer waren noch gar nicht zurück und etwas überrascht stellte ich fest, wer schon da war und wer nicht. Erst ein Kollege teilte mir das Ergebnis mit, welches ich bei diesem Rennen erreicht hatte. In meiner Altersklasse belegte ich den 6ten Platz und in der Gesamtwertung kam ich an 27er Stelle. Für mich als Anfänger war das ein fantastisches Ergebnis, denn gefühlt fuhr ich hier durchweg gegen weitaus erfahrenere Sportler. Ich machte mir den Spaß einige zu goggeln und traf durchweg auf Bilder, mit Leuten auf dem Treppchen die stehend einen Pokal in die Höhe hielten. Das machte mich schon stolz und fortan betrachtete ich meinen Blechesel-Prototypen als renntauglich. Thomas Lukasczyk |